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Schulpolitik – Sitzenbleiben und Inklusion

Wieder einmal ein Versuch, das Blog zu beleben. Aber in letzter Zeit werden so viele interessante Dinge diskutiert, natürlich auch in Blogs, die ich lese, und zu denen ich irgendwie meine Gedanken sortieren möchte.

Da wäre natürlich zum einen das Thema „Sitzenbleiben“.
Zwei Kollegen führen da gerade eine sehr interessante Diskussion zu:
Die Grundschul-/Hauptschullehrerperspektive
Musik in der Schule
und der Kollege vom Gymnasium:
Dorok

Aus meiner Sicht (arbeite an einem eher kleinstädtischen Gymnasium, mit ein wenig Erfahrung an einer Gesamtschule mitten im Ruhrgebiet) erscheint der erste Artikel natürlich schon ein wenig wie harter Tobak. Zumal ich mich immer noch frage, wie viel da systemimmanent ist, an dem auch wir Gymnasiallehrer wenig ändern können? Aber auch, wie viel können wir vielleicht doch ändern?

Wobei ich auch der Meinung bin, dass Sitzenbleiben gar nicht so oft vorkommt und es diesen oft beschworenen Fall, dass es den „Mathe-Versager“, wegen einem Fach hängen bleibt, ja so gar nicht gibt, da es ja eben Ausfälle in mehreren Fächern geben muss.
Genau so bin ich mir aber auch nicht sicher, ob das Wiederholen wirklich etwas bringt.
Manchmal gibt es Kinder, die sich im Klassenverbund nicht wohl fühlen, die aus verschiedenen Gründen einfach ein Jahr mehr Zeit brauchen (sei es „persönliche Reife“, familiäre Probleme, Pubertätsaussetzer…). Manchmal weiß man aber auch, dass es dem Kind einfach nicht gut tun wird, zu wiederholen, dass der Knacks zu groß wird.
Aber auch das Gymnasium kennt und nutzt die pädagogische Versetzung.
Und auch die Gymnasien haben Förderkurse. Wobei die bei uns in der Mittelstufe es echt schwer haben. Die meisten Schüler sehen es nur als Strafe und haben keine Lust darauf. Und ehrlich gesagt, haben es die meisten Lehrer auch nicht. Missmutige Achtklässler am Nachmittag durch den Stoff zu ‚prügeln‘, den sie eh schon nicht mögen, ist alles andere als einfach.
Alle Versuche, das Konzept zu überarbeiten, sind bislang gescheitert.
(Ein neuer Ansatz an unserer Schule wird übrigens die Portfolio-Arbeit sein, fängt allerdings mit der Klasse 5 an – die sind ja eigentlich noch mehr oder weniger für alles zu begeistern, selbst zum Förderunterricht gehen viele noch freiwillig… – mal schauen, was das Konzept bringen wird).

Für mich läuft es aber immer wieder auf eine Sache hinaus: Ich wünsche mir mehr Zeit.
Und daran hängt auch der Punkt, den ich oben als „systemimmanent“ bezeichnet habe. Grundschule und Grundschullehrer haben oft (nicht immer) mehr Zeit in ihrer Klasse, mit den Kindern. Sie unterrichten deutlich weniger Kinder, da sie häufig überwiegend in einer Klasse eingesetzt werden (ich weiß, dass es da Unterschiede gibt, je nach Fach und wahrscheinlich auch Größe der Schule) und können dadurch ihre Zeit auch viel flexibler handhaben. Aber bei uns sind viele Stunden in einer Klasse die Ausnahme, nicht die Regel. Aufgrund unseres bilingualen Zweiges bin ich in der glücklichen Lage, meistens mindestens 8 Stunden Unterricht in meiner 5. Klasse zu haben. Gibt man mir noch Politik (fachfremd) hinzu, sind es 10. Der Normalfall sind aber eher so 5 oder vielleicht auch 6 Wochenstunden.
Je nach Fachkombination unterrichtet man zwischen 110 und mehreren hundert Schülern. Teilweise sieht man sie nur einmal die Woche.
Da kann ich sie überhaupt nicht so gut kennenlernen, wie es oben im ersten Blogeintrag gewünscht (bzw. vorgeworfen) wird. Ich gebe mir alle Mühe – bei momentan 32 Kindern in meiner Klasse, 32 in der Parallelfünf und zwei Leistungskursen in der Oberstufe (und damit habe ich Glück und sehr wenige Kurse) finde ich das alles andere als einfach.
Und auch alles andere als befriedigend.

Ähnliches gilt für die Unterrichtssituation insgesamt. Ich würde gerne deutlich mehr differenzieren, individualisierter arbeiten, die Schüler nicht alles im Gleichschritt machen lassen.
Denn natürlich ist das Lerntempo unterschiedlich, je nach Schüler, je nach Fach und auch je nach Thema. Und ich versuche es, soweit, wie ich es im Rahmen meiner – immerhin – 7 Unterrichtsstunden in Englisch und 5 Unterrichtsstunden in Deutsch im 45 bzw. 90 Minuten Raster kann. Neben der Korrekturbelastung (momentan liegen hier zwei Sätze LK Klausuren – für eine brauche ich im Schnitt 45 Minuten und das ist recht schnell – und einer Englischarbeit Klasse 5) und Erziehungsarbeit. Die ich selbstredend auch leiste! Und zwar nicht zu knapp.
Ich weiß schlicht und ergreifend nicht wie ich differenzieren soll.
Ich bastel immer mal wieder Wochenpläne zusammen. Ich gebe zusätzliches Futter für meine leistungsstärkeren Kinder rein (zumindest in Englisch – ich unterrichte das erste Mal Deutsch in der 5, da wusel ich mich selber noch durch).
Meine Zeit hat aber auch Grenzen.
Zumal ich auch gerne weiter Klavier lernen und mich ausreichend um meinen Hund kümmern können möchte.

Das sind so Momente, wo ich mir ein oder zwei Tage komplett nur in meiner Klasse wünschen würde, in denen ich die Lernzeiten vielleicht individueller gestalten könnte. (Wobei das natürlich nichts an der Situation der mangelnden Zeit für Unterrichtsvorbereitung ändern würde.)

Aber bevor ich zu träumen anfange (und ich habe definitiv Träume, wie ich mir das Schulsystem wünschen würde), gehe ich zunächst noch auf das andere, große schulpolitische Thema ein, das ins Haus steht: Inklusion.

Auch unser Gymnasium wird eine Inklusionsschule. Das wurde uns kurz nach den Weihnachtsferien eröffnet. Und nun sind wir verzweifelt auf der Suche nach Richtlinien, Beispielen und Umsetzungsmöglichkeiten. Ach, eigentlich noch viel mehr. So richtig wissen wir auch nach dem Treffen mit der Dezernentin nicht, was da auf uns zukommt.
Das einzige, das wir wissen, ist, dass eine kleine Handvoll Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen an unsere Schule kommt. Also Schüler – so wie es uns erklärt wurde -, die nach dem Lehrplan der Hauptschule unterrichtet werden und die vermutlich maximal den Hauptschulabschluss nach Klasse 9 (allerdings erst nach 10 Schuljahren) erhalten werden.
Und, ganz ehrlich, den Sinn dahinter verstehe ich nicht. Zumindest nicht innerhalb eines differenzierten Schulsystems, das wir ja nun mal bislang haben.
(Der einzige Grund hierfür ist übrigens der, dass alle anderen Schulen mit integrativen Lerngruppen in unserem Ort, dicht sind.)

Ich finde die Idee einer wirklichen Gesamtschule gut. (Ok, ich hätte ein paar Änderungsvorschläge, die ich weiter unten anführen werde.) Aber momentan haben wir das einfach nicht.
Und so bekommen eine Handvoll Gymnasiallehrer, die nicht den leisesten Schimmer von Förderschule haben, auf einmal diese Schüler vorgesetzt. So wie ich das verstanden habe, habe ich dann Schüler, die Geschichten auf Englisch schreiben und sich das present progressive erarbeiten. Und Schüler, die einfachste Wort-Bild-Verbindungen herstellen.
Mir tun übrigens vor allem diese Handvoll Schüler leid, die auf einmal als Versuchskaninchen zu uns müssen. Ich verstehe und glaube durchaus, dass diese Schüler einerseits von dem Input, den sie durch die „Gymnasialkinder“ erhalten, profitieren werden. Sorgen macht mir allerdings der doch vermutlich extrem große Leistungsunterschied. Und vor allem unsere Elternklientel. Die Sorte Eltern, die vor allem darauf bedacht ist, dass ihr Kind das Abitur schafft. Die häufig wenig Verständnis zeigen, sobald sie meinen, dass ihr Kind irgendwelche Nachteile erleidet. Sprich, die sich sorgen, dass ihr Kind wegen der Inklusionskinder weniger lernen. Und dass diese mögliche negative Haltung sich dann auf die Kinder überträgt und es dann Essig ist mit den Vorteilen in Bezug auf soziale Fähigkeiten, die die Gymnasialkinder laut Forschung von der Inklusion hätten. Und versteht mich nicht falsch, wir haben eine ganze Reihe an Schülern, denen etwas mehr Empathie und Rücksichtnahme extrem gut täte!

Meine Gefühle bezüglich der Inklusion sind noch sehr gemischt. Vermutlich klang das bis jetzt eher negativ. Das ist es eigentlich nicht bzw. soll es nicht sein.
Es sind die Rahmenbedingungen, die mir Sorgen machen.
Wir werden eine Sonderpädagogin bzw. einen Sonderpädagogen zugewiesen bekommen. Nur wird der oder die ja nicht nur bei uns sein, sondern möglicherweise noch an zwei weiteren Schulen, sprich mit Sicherheit auch an der Grenze der Belastbarkeit sein.
Und ich mache mir Sorgen wegen der alteingesessenen Gymnasialkollegen (klar, haben wir die auch), die die Trennung der Schulsysteme strikt befürworten und das evtl gegenüber den Kindern durchschimmern lassen. In Kombination mit möglicherweise kritischen Eltern kann das zu einem sehr schwierigen Klima führen.

Vielleicht oder hoffentlich sage ich aber auch in einem Jahr, dass die meisten meiner Ängste unbegründet waren.
Denn dass ich in der Klasse sein werde, ist wohl recht wahrscheinlich, wenn ich zwischen den Zeilen des Schulleiters und des Erprobungsstufenleiters lese…

Denn im Prinzip fände ich ein wirklich inkludierendes System mit den entsprechenden Rahmenbedingungen gut.
Aber nicht nur einfach eine Gesamtschule. Sondern mehr.
Am liebsten wäre mir ein System, in dem Schüler quasi Kurse belegen können. Wer Mathe schnell versteht, könnte dann den Stoff der 5 und 6 in einem halben Jahr durchnehmen, gleichzeitig aber länger für Englisch brauchen. So in der Art jedenfalls. Eine Schwierigkeit sehe ich selber in der Frage, wie viel Klassengefühl Kinder wirklich brauchen. Tut es ihnen gut, einer Klasse anzugehören, so wie es bislang ist, oder könnten sie nicht auch in Kursen eine Heimat finden? Dazu würde auch räumlich eine ganz andere Schule gehören. Mit mehr kleineren, gemütlichen Räumen. Mit mehr Arbeits- aber auch Entspannungsmöglichkeiten (und einer Schülerschaft, die respektvoll mit ihrer Umgebung umgeht und Mülleiner auch wirklich nutzt…)
Richtig ausgegoren ist dieser Wunsch nicht.
Er wird ja eh nie wahr werden…

So muss ich also erst mal weiterhin als „versnobter“ Gymnasiallehrer abwarten, was da auf uns zukommt und unter ganz anderen Rahmenbedingungen als an der Grundschule trotzdem Ähnliches leisten.

Nein, ich kann die Ängste noch nicht abstellen.
Die Ängste, dass ich meinen eigenen Ansprüchen nun noch weniger gerecht werden kann als sowieso schon…

2 Kommentare zu “Schulpolitik – Sitzenbleiben und Inklusion

  1. >Richtig ausgegoren ist dieser Wunsch nicht.
    >Er wird ja eh nie wahr werden…

    Aber schön wäre das schon. Ich bin sehr dafür, dass der Staat vorschreibt, was Schüler können müssen, um einen bestimmten Abschluss zu erhalten. (Also: Lehrpläne mit Inhalten.) Aber nicht alle Schüler müssen alles gleichzeitig machen. Ich weiß aber nicht, wie man das organisieren kann. – Es ei denn, man kümmert sich gar nicht groß darum: Wer am Ende der 8. Klasse nachweisen kann, dass der Mathestoff der 9. Klasse sitzt (wie auch immer das gekommen ist), der kann im nächsten Jahr oder halben Jahr mit Mathe pausieren. Würden Semester statt Schuljahre helfen?

    • Ja, die Idee ist nicht sehr ausgegoren, denn es würde eine völlige Umstrukturierung der Schule erfordern. Und mir, die ich primär in Klasse 5 und 6 als Klassenlehrerin eingesetzt bin, stellt sich auch immer noch die Frage, wie wichtig der Klassenverband nun wirklich ist…
      Semester könnten hinkommen. Die andere Frage ist natürlich, wie man dann die Unterrichtsstunden der Lehrer organisiert. Ob es dann Kurse wie „Mathe, Klasse 6“ oder eher so etwas wie „Geometrie 1“, „Algebra 2“ gibt? So ähnlich kenne ich es von nordamerikanischen High Schools. Da muss man eine bestimmte Anzahl Kursen in bestimmten Fachgruppen belegen, aber theoretisch kann man da dann auch schon früher seinen Abschluss machen, wenn man die erforderlichen Kurse hat.

      Aber da ich eh nie Bildungspolitikerin sein werde – und selbst wenn, ich mich mit solchen Wünschen und Träumen dann sowieso nicht durchsetzen könnte – bleibt es beim Träumen.
      Denn wenn Deutschland es nicht mal schafft, den Bildungsföderalismus-Schwachsinn abzuschaffen und sich auf ein System zu einigen, dann erst recht nicht auf eine völlige Umstrukturierung…

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